VON DEUTSCHLAND
 IN DEN TÜRKISCHEN FOLTERKELLER
  
 
von Proasyl   3.Apr.2001 12:01
 
PRO ASYL Infonetz Asyl


ZUR RÜCKKEHRGEFÄHRDUNG VON KURDEN

DOKUMENTATION DES
NIEDERSÄCHSISCHEN FLÜCHLINGSRATS und PRO ASYL


Die tageszeitung vom 13. Juli 1999
Oktober 1999



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INHALT


Vorwort ***
Abkürzungen ***
1. Ahmet Karakus ***
2. Abdulmenaf Düzenli ***
3. Mehmet Ö. ***
4. Abdurrahman Kilic ***
5. Hüzni Almaz ***
6. Hasan Kutgan ***
7. Salih Berkil ***
8. Hamdullah Yilmaz ***
9. Iman Genlik ***
10. Mehmet Ali Akbas ***
11. Ibrahim Toprak ***
12. Menduh Bingöl ***
13. Mehmet C. ***
14. Emin Acar ***
15. Ferit K. ***
16. Hüseyin Öztürk ***
17. Ilhan O. ***
18. Mustafa E. ***
19. Abdülhalim Nayir ***



Vorwort



•Jedes Jahr fliehen Tausende von Menschen aus der Türkei in die Bundesrepublik Deutschland. Seit den 70er Jahren gehört die Gruppe der (vorwiegend kurdischen) Türkei-Flüchtlinge zur Spitzengruppe der Asylsuchenden. Nur ein Teil dieser Flüchtlinge wird als politisch verfolgt anerkannt oder erhält Abschiebungsschutz nach den §§ 51, 53 AuslG. 1998 waren es rund 15 %.



Der Großteil der Flüchtlinge wird jedoch abgelehnt, zur Ausreise aufgefordert und in die Türkei abgeschoben – häufig mit der fragwürdigen Argumentation, sie könnten in der Westtürkei gefahrlos leben. Bei Flüchtlingsinitiativen und Menschenrechtsorganisationen in Deutschland und der Türkei häufen sich jedoch Berichte über Folter und politische Verfolgung von aus Deutschland ausgewiesenen Flüchtlingen.



Vor diesem Hintergrund hat der Niedersächsische Flüchtlingsrat Anfang 1998 begonnen, kursierende Berichte über Inhaftierungen und Misshandlungen von aus Deutschland ausgewiesenen bzw. abgeschobenen Flüchtlingen zu sammeln und aufzubereiten. Wir recherchierten den Fluchtweg und Fluchthintergrund und den Verlauf des Asylverfahrens, sicherten Beweise und beschafften und übersetzten gerichtliche Unterlagen. Ein Großteil der Fälle wurde in enger Kooperation mit dem türkischen Menschenrechtsverein IHD (Insan Haklari Denergi) unter Einschaltung von Vertrauensanwälten recherchiert. So war es oftmals möglich, direkten Kontakt zu den Betroffenen aufzunehmen und – soweit es zu Gerichtsverfahren kam – Einblick in die Gerichtsakten zu erhalten.



In einer Reihe von Fällen gelang es uns, die Verfolgung und Misshandlung lückenlos zu beweisen. Diese Fälle haben wir in die Dokumentation aufgenommen. Zum Teil wurden wir natürlich auch mit »Verfolgungsmythen« konfrontiert. Um unsere Glaubwürdigkeit nicht zu gefährden, haben wir alle uns vorliegenden Berichte mehrfach gegenrecherchiert und im Zweifel auf ihre Dokumentation verzichtet.



Die recherchierten Fälle lassen nicht nur die Lage der Menschenrechte in der Türkei, sondern auch die Asylrechtsprechung der BRD in einem trüben Licht erscheinen. In den meisten Fällen, die wir recherchierten, hätten Folter, Inhaftierung, Gefängnisstrafen verhindert werden können, wären die Asylgesuche der Betroffenen gewissenhaft überprüft und ernstgenommen worden.



So wurden beispielsweise im Fall Abdulmenaf Düzenli echte Unterlagen vom zuständigen Verwaltungsgericht ohne Prüfung als gefälscht eingestuft. Ferner wurde fälschlicherweise davon ausgegangen, Desertion werde in der Türkei »nur« strafrechtlich und nicht politisch verfolgt. Gegen Düzenli wurden zwei Verfahren angestrengt – wegen Kriegsdienstverweigerung vor einem Militärgericht und wegen separatistischer Propaganda vor dem Staatssicherheitsgericht Diyarbakir. Düzenlis öffentliche Verweigerung widersprach nämlich der Doktrin vom türkischen Einheitsstaat.



Im Fall des Kurden Mehmet Ö. wurde vom Bundesamt zynischerweise die Argumentation des türkischen Staates im Kampf gegen die Kurden übernommen. Die drohende Gefängnisstrafe wegen angeblicher Unterstützung der PKK wertete das Bundesamt nicht als politische Verfolgung, sondern bezeichnete sie als »Ahndung kriminellem Unrechts«. Diese Gleichsetzung der Interessen von Herkunfts- und Fluchtstaat unter Ausblendung der Verfolgungs- und Ermittlungsmethoden der türkischen Sicherheitskräfte ist ebenso erschreckend wie bezeichnend für die neuere Bescheidungspraxis des Bundesamts.



Ö. wurde schließlich Opfer der kalten Abschaffung des Rechtsweges: Als Asylbewerber musste er seinen Unterhalt mit Gutscheinen bestreiten, weshalb er nach Ablehnung seines Asylantrages den Rechtsanwalt, der 700 DM Vorschuss verlangte, nicht mehr bezahlen konnte. Somit verstrich die Klagefrist und Mehmet Ö. wurde in die Türkei abgeschoben.



Im überwiegenden Teil der von uns recherchierten Fälle war das tatsächliche oder unterstellte politische Engagement der Betroffenen in Deutschland Anlaß für Folter und politische Verfolgung nach der Rückkehr. Dabei stellten wir fest, dass die Einschätzung der bundesdeutschen Asylentscheidungsinstanzen, exilpolitisches Engagement werde in der Türkei nicht politisch und strafrechtlich verfolgt und stoße insbesondere bei »Mitläufern« auf keinerlei Interesse, offenkundig nicht den Tatsachen entspricht: Jegliches Engagement für die Kurden ist nach türkischem Recht strafbar, unabhängig davon, wo es ausgeübt wurde. Das Profil der Unterstützung ist dabei nicht maßgeblich. Die Teilnahme an einer Demonstration für Frieden und Freiheit in Kurdistan wird ebenso verfolgt wie exilpolitische Tätigkeiten an exponierter Stelle. Dies zeigen die Fälle Ahmet Karakus, Abdurrahman Kilic, Hüsni Almaz, Hasan Kutgan, Salih Berkil und Hamdullah Yilmaz.



In zweien der dargestellten Fällen, bei Salih Berkil und Hamdullah Yilmaz, handelt es sich um Arbeitsmigranten, nicht um Flüchtlinge. Wir haben beide Fälle dennoch dokumentiert, weil an ihnen deutlich wird, wie ernst anonyme Denunziationen – und seien sie noch so haltlos – von den türkischen (Straf-) Verfolgungsbehörden genommen werden, und wie hoch die Gefahr ist, zu Unrecht inhaftiert, angeklagt und zudem der Folter unterworfen zu werden. Denunziationen werden in der Türkei offensichtlich großes Gewicht beigemessen und die Beschuldigten zunächst vorverdächtigt, egal ob es sich um inhaltlich völlig haltlose anonyme Verleumdungen, um Aussagen im Rahmen der Kronzeugenregelung oder um Denunziationen unter Folter handelte.



Oftmals genügt auch nur der leise Verdacht auf eine antitürkische Einstellung, um eine Festnahme zu veranlassen, wie bei Hasan Kutgan, der zunächst nur festgenommen worden war, weil er im Osten des Landes, in Pazarcik, geboren worden war. In einigen Fällen erfolgte eine Festnahme erst Tage oder Wochen nach der Einreise in die Türkei, wie beispielsweise bei Abdurrahman Kilic und Hüsni Almaz. Diese Fälle sind besonders schwer zu erfassen, da sie meist aus dem Blickwinkel der Öffentlichkeit verschwunden sind.



Bundesweite Aufmerksamkeit erregte der Fall Mehmet Ali Akbas. Er war nach der Abschiebung verschleppt und tagelang gefoltert worden. Erst nachdem er umfangreiche Aussagen über die Strukturen der PKK in Deutschland gemacht, etliche Personen denunziert und sich zum Schein zur Mitarbeit bereit erklärt hatte, wurde er wieder freigelassen. Es gelang ihm, die erlittenen Folterungen gegenüber den deutschen Behörden glaubhaft zu machen. Als staatlich anerkanntes Folteropfer durfte er offiziell wieder in die Bundesrepublik einreisen und ist mittlerweile als Asylberechtigter anerkannt worden.



Der Fall des Kurden Ibrahim Toprak bestätigt alle Befürchtungen, die von Kritikern gegen die 1993 erfolgte faktische Abschaffung des Asylrechts hinsichtlich der drohende Gefahr von Kettenabschiebungen geäußert wurden: Der Kurde wurde – in Anwendung der Drittstaatenregelung–nach Österreich zurückgeschoben und von dort ohne Prüfung seines Asylbegehrens in die Türkei befördert. Kein Staat erklärte sich zuständig für



die Durchführung des Asylverfahrens. Obwohl der Fall bereits im März 1998 veröffentlicht wurde, liegt bis heute keine Reaktion der verantwortlichen deutschen und österreichischen Behörden vor. Toprak wurde wegen der Teilnahme an einer gewalttätigen Demonstration, die laut Untersuchungsbericht vom türkischen Geheimdienst und der türkischen Anti-Terror-Polizei geschürt und mitangezettelt worden ist, schließlich zu 18 Jahren Haft verurteilt.



Auch bei weiteren Fällen handelt es sich um typische Verfolgungsschicksale. Zumeist waren die Kurden nicht (exil-) politisch exponiert tätig, sondern vielmehr »einfache« Mitläufer – zumindest nach Einschätzung der deutschen Behörden in den Asylverfahren.



Auch in den neuen Fällen ging der Abschiebung/Ausweisung meist eine Fehleinschätzung bzw. -entscheidung deutscher Behörden und Gerichte voraus. Die Asylentscheider setzten sich über das Verfolgungsschicksal der Betroffenen hinweg und bescheinigten ihnen die Möglichkeit einer verfolgungsfreien Rückkehr – im Zweifelsfall mit Verweis auf eine vermeintlich sichere inländische Fluchtalternative.



In vielen Fällen setzten die deutschen Behörden ein rechtsstaatliches Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte voraus. Damit bagatellisierten sie das Verfolgungsschicksal der Flüchtlinge bzw. stempelten es als unglaubwürdig ab. Bei Menduh Bingöl lehnte das Bundesamt den Asylantrag z.B. mit der Begründung ab, die vorgebrachten Festnahmen seien wohl »frei erfunden«. Es sei nicht nachvollziehbar, so das BAFl, »dass ein Festgenommener ohne jeglichen Tatnachweis über mehrere Tage hinweg festgehalten wird«. Herr Bingöl wurde einige Tage nach seiner Abschiebung festgenommen, gefoltert und aufgrund des Foltergeständnisses wegen Mitgliedschaft in der PKK angeklagt.



Die »Schwelle, die bloße Belästigung von der politischen Verfolgung trennt«, wird nahezu unüberwindbar hoch angesetzt. Festnahmen und Folterungen reichten jedenfalls in den hier recherchierten Fällen nicht aus, um das BAFl und die Gerichte von einer politischen Verfolgung zu überzeugen. Vielfach wurde solches Vorbringen als »ortsübliche Belästigung« abgetan. Welch fatale Folgen dies haben kann, zeigt z.B. der Fall Hüseyin Öztürk: Der Kurde wurde im März 99 abgeschoben, nachdem das BAFl, das VG Regensburg und der VGH die Angaben Öztürks, er werde in der Türkei wegen seiner Guerillatätigkeit als Jugendlicher von den Sicherheitskräften gesucht, als unglaubwürdig eingestuft hatten. Man verdächtige ihn allenfalls pauschal des Separatismus, so das VG Regensburg, dies sei aber in den Notstandsprovinzen nichts ungewöhnliches und treffe generell jeden kurdischen Jugendlichen. Öztürk wurde noch auf dem Flughafen festgenommen und gem. Art. 125 TStGB wegen Separatismus angeklagt. Eine Verurteilung nach Art.125 TStGB sieht die Todesstrafe vor. Die Fehlentscheidungen deutscher Behörden und Gerichte bringen Öztürk nicht nur in den türkischen Folterkeller, sondern unter Umständen sogar in die Todeszelle.



Im Fall von Ilhan O. musste der durch die Verfassung garantierte Schutz von Ehe und Familie vor dem Schutz der Staatskassen zurücktreten: Die Kurdin kam 1996 im Rahmen der Familienzusammenführung zu ihrem Ehemann, der nach Art. 51 Abs. 1 als politisch Verfolgter anerkannt und in der Bundesrepublik bleibeberechtigt ist. Weil die Familie jedoch auf Sozialhilfe angewiesen war, wurde die Kurdin mit ihren drei Kindern im März 99 abgeschoben. In der Anti-Terror-Abteilung wurden Frau O. und ihre Kinder misshandelt und bedroht.



Sofern sich die Betroffenen in Deutschland politisch betätigt hatten, griffen das BAFl und die Gerichte meist auf stereotype Satzbausteine zurück. In der Entscheidungspraxis wird davon ausgegangen, »dass untergeordnete politische Betätigungen in Deutschland … türkischen Sicherheitskräften in der Regel nicht bekannt werden bzw. nicht deren Interesse wecken und deshalb auch nicht zu Ermittlungen und Verfolgungsmaßnahmen in der Türkei führen«. Diese Einschätzung ist angesichts der Recherchen nicht haltbar: In nahezu allen von uns dokumentierten Fällen spielten bei der Festnahme und den Verhören die tatsächlichen oder unterstellten exilpolitischen Aktivitäten der Kurden eine Rolle. Das geht u.a. aus den vorliegenden Vernehmungsprotokollen und Anklageschriften hervor.



In einigen Fällen waren die Sicherheitskräfte nach Aussagen der Betroffenen an einer Spitzeltätigkeit interessiert. Die Betroffenen wurden unter Folter oder Androhung von Gewalt zur Zusammenarbeit gezwungen.



Eine zweifelhafte Rolle spielte bei manchen Abschiebungen offenbar auch der Bundesgrenzschutz: Vier der Kurden erheben schwere Vorwürfe gegen den BGS. So soll z.B. der 17-jährige Emin Acar bei der Abschiebung getreten und beschimpft worden sein. Man habe ihn vor den türkischen Polizisten als »Separatisten« bezeichnet. Acar wurde schwer gefoltert und aufgrund seines »Geständnisses« vor dem SSG Istanbul wegen Unterstützung der PKK angeklagt. Mehmet C. und Abdulhalim Nayir gaben im Menschenrechtsverein IHD zu Protokoll, dass Beamte des BGS den türkischen Polizisten gegen ihren Willen bei der Abschiebung belastendes Material übergeben und sie damit der Folter ausgeliefert hätten.



In den letzten Monaten hat sich die Situation in der Türkei weiter verschärft. Nach der Verhaftung von Abdullah Öcalan nahm der Terror gegen Oppositionelle und insbesondere gegen Kurden zu. Angesichts der »hochemotionalisierten Atmosphäre« gab das Auswärtige Amt bereits wenige Tage nach der Verhaftung Öcalans in einem ad-hoc-Bericht vom 25.02.99 zwar ein »erhöhtes Risiko« für abgeschobene Kurden zu bedenken, die bisherige Lageeinschätzung wurde jedoch ausdrücklich bestätigt. Das Niedersächsische Innenministerium stellte daraufhin unter Bezugnahme auf eine unveröffentlichte Kommentierung des Bundesinnenministeriums klar, dass an der Abschiebungspraxis grundsätzlich nichts geändert werde. Bei »PKK-Straftätern« solle aber das Konsultationsverfahren durchgeführt werden.



Das Konsultationsverfahren besagt, dass die türkischen Behörden den deutschen auf Anfrage mitteilen, ob dem Betroffenen ein Strafverfahren in der Türkei droht. Dieses Verfahren ist jedoch zweifelhaft, da den türkischen Behörden damit signalisiert wird, dass der »Schübling« eine Straftat mit PKK-Bezug begangen hat. Zum anderen greift das Verfahren schon deshalb nicht, weil vielen Festnahmen nach unseren Erkenntnissen keine Ermittlungen vorausgehen. Sie erfolgen aufgrund eines vagen Verdachts oder einer Denunziation. Ermittelt wird oftmals erst nach der Festnahme, wobei auch die Folter zu den »Ermittlungsmethoden« zählt. In den meisten Fällen, die wir recherchierten, hätten Anfragen bei den türkischen Behörden ergeben, dass nichts gegen die Betroffenen vorliege.



Mindestens zwei Flüchtlinge wurden nachweislich nach ihrer Ausweisung aufgrund einer anonymen Denunziation festgenommen. Wie bereits im ersten Zwischenbericht erwähnt wurde, spielen Denunziationen in der Türkei eine große Rolle, und sie werden sehr ernst genommen. Die Beschuldigten sind einem Vorverdacht ausgeliefert, egal ob die Aussagen einer inhaltlichen Überprüfung standhalten oder nicht. Das zeigt z.B. der Fall Ferit K.. Die Gendarmeriekommandantur Kasliova erhielt am 16.02.99 einen anonymen Anruf aus Deutschland. K. sei ein Kurier der PKK, hieß es. Die Polizei nahm Herrn K. daraufhin noch am gleichen Tag fest. Unter Folter erpressten sie von ihm ein Schuldeingeständnis, auf dessen Grundlage die Staatsanwaltschaft Anklage vor dem Staatssicherheitsgericht Diyarbakir erhob.



Folterungen können meist nur schwer bewiesen werden. Nur selten können die Betroffenen entsprechende Atteste vorlegen. Viele Ärzte und Ärztinnen in der Türkei weigern sich aus Angst vor Arbeitsplatzverlust und strafrechtlicher Verfolgung, Folterverletzungen zu attestieren. Im Fall Emin Acar liegt ein solches Attest eines Gefängnisamtsarztes vor. Er stellte bei dem 17jährigen ein geplatztes Trommelfell fest.



Letztendlich hängt aber alles von der Aussage des Betroffenen und seiner Glaubwürdigkeit ab. Selten gibt es Zeugen, die die Folterungen bestätigen können. Einen solchen »Ausnahmefall« haben wir hier dokumentiert: Mehmet C. wurde in der Anti-Terror-Abteilung Istanbul – während er selbst gefoltert wurde – Zeuge der Folter an zwei weiteren Personen. Es gelang der Rechtsanwältin Gülsen Yoleri, einen der beiden ausfin-dig zu machen. Es handelt sich um den aus Deutschland abgeschobenen Hüseyin Öztürk, der in der Haftanstalt Ümraniye inhaftiert ist.



Dem Bundesamt und den Gerichten genügen die vorgelegten Fälle nicht, um hieraus eine allgemeine Rückkehrgefährdung abzuleiten. Die Zahl der Referenzfälle sei zu gering, so der offizielle Tenor. Der Flüchtlingsrat Niedersachsen ist davon überzeugt, dass die vorliegenden Fälle nur die Spitze des Eisberges darstellen, und dass die Dunkelziffer der nach ihrer Ausweisung und Abschiebung politisch Verfolgten sehr hoch ist. Oftmals wenden sich die Betroffenen aus Angst vor weiterer Verfolgung nicht an unabhängige Stellen wie den Menschenrechtsverein IHD.



Bis vor kurzem ließen sich weder das Auswärtige Amt noch das Bundesamt und die zuständigen Gerichte von den vorgelegten Fällen sonderlich beeindrucken. Der Lagebericht des Auswärtigen Amtes zur Türkei vom 7. September 1999 ist Ausdruck einer vorsichtigen Neubewertung. Wurde bislang lediglich der Fall Mehmet Ali Akbas als bewiesen eingestuft, so äußert sich das Auswärtige Amt im neuen Lagebericht zu weiteren Fällen. Auffällig ist allerdings, dass das Auswärtige Amt fast ausnahmslos diejenigen Fälle als glaubhaft bestätigt, in denen es ohnehin nach einer Rückkehr nach Deutschland zu einer Asylanerkennung gekommen ist. Einige Fälle hat das Auswärtige Amt nicht aufgegriffen, in anderen offensichtlich keine Möglichkeit gefunden, die Einzelheiten zu überprüfen. Nicht nachvollziehbar ist, dass sich das Auswärtige Amt fast durchweg auf die Frage beschränkt, ob die von den Betroffenen behauptete Misshandlung beziehungsweise Fol-



ter glaubhaft ist. Zu sonstigen Hintergründen der Fälle, wie etwa nach der Abschiebung folgende Inhaftierung oder Urteilen äußert sich das Auswärtige Amt zurückhaltend. Für aus Deutschland abgeschobene Menschen trägt nach unserer Ansicht die Bundesrepublik eine besondere fortwirkende Verantwortung. Vom Auswärtigen Amt erwarten wir deshalb Bemühungen, einen effektivem Monitoring-Mechanismus zum Schicksal Abgeschobener zu installieren.



Positiv zu bewerten ist allerdings die Praxis des Deutschen Generalkonsulats in Istanbul, das sich in der Zwischenzeit in einigen Fällen tatkräftig und erfolgreich für die Betroffenen eingesetzt hat. Drei Kurden, Abdulhalim Nayir, Mustafa E. und Emin Acar, wurden nach diplomatischer Intervention durch die Konsulat in überraschenden Urteilen freigesprochen. Die Freisprüche sind um so bemerkenswerter, als türkische Rechtsanwälte aufgrund der drückenden Beweislast in zwei Fällen mit hohen Haftstrafen gerechnet hatten. Folterungen in Polizeigewahrsam, Inhaftierung und Pressionen werden damit aber nicht ungeschehen gemacht. Auch schützen Freisprüche nicht unbedingt vor weiterer politischer Verfolgung. Den Betroffenen haftet weiter der Verdacht des Separatismus und Terrorismus an. Schließlich bleibt es unbefriedigend, wenn in Einzelfällen aufgrund diplomatischer Bemühungen »Erfolge« erzielt werden können, grundlegend aber an der Asylpraxis nichts geändert wird und weiter Flüchtlinge in den Folterkeller abgeschoben werden.



Insgesamt bietet der aktuelle Lagebericht des Auswärtigen Amtes zur Türkei ein inhomogenes Bild. Einigen neuen präzisierenden Formulierungen stehen erhebliche Ungereimtheiten gegenüber.



Dazu gehört es, dass im Lagebericht eine Unterscheidung getroffen wird zwischen Staat und Sicherheitsorganen. Das Auswärtige Amt vertritt die Auffassung, dass die Menschenrechtspraxis in der Türkei vor allem an der weiterhin unbefriedigenden Beachtung geltenden Rechts durch Sicherheitskräfte leidet. Von deren Ungesetzlichkeiten distanziere sich der Staat regelmäßig. Diese im Lagebericht mehrmals wiederholte Behauptung ist keineswegs schlüssig. Die Sicherheitskräfte (Armee, Polizei, Geheimdienste) handeln als integraler Bestandteil des politischen Systems des Landes. Richtig ist, dass der Nationale Sicherheitsrat als quasi überparlamentarisches Gremium, Militär und Sicherheitskräfte ein gewisses Eigenleben führen. Es kennzeichnet aber gerade die demokratischen Defizite der Türkei, dass die Sonderrolle der Armee und Sondervollmachten der Sicherheitskräfte regelmäßig bestätigt und auf eine parlamentarische Kontrolle weitgehend verzichtet wird. Die Sicherheitskräfte stehen also nicht neben einem Staat, der sie nicht kontrollieren kann. Sie sind dessen verlängerter Arm und zugleich Staat im Staat. In der Süddeutschen Zeitung vom 4.August 1999 beschreibt Wolfgang Koydl anlässlich der jährlichen Tagung des Obersten Militärrates (YAS) der Türkei den Status Quo: »Das Militär ist der eigentliche Machthaber im Land und auf der YAS-Tagung werden entscheidende politische Akzente gesetzt. Hier wird die Besetzung der beiden wichtigsten Posten der Republik entschieden: Des Generalstabschefs und des Generalsekretärs des Nationalen Sicherheitsrates. Dieses Gremium tritt einmal im Monat zusammen und gibt ›Empfehlungen‹ zur Tagespolitik ab, an die sich die Politiker halten wie an einen Befehl.«



Dass es eine Fülle von Menschenrechtsverletzungen in der Türkei gibt, beschreibt der Lagebericht des Auswärtigen Amtes recht deutlich. Erfreulich dabei ist, dass das Auswärtige Amt an einigen Stellen deutlich macht, dass nicht die Absichtserklärungen der türkischen Regierung mit der Realität verwechselt werden dürfen. So schreibt das Auswärtige Amt: »In jüngster Zeit sind in der öffentlichen Diskussion über Menschenrechtsverletzungen bisweilen neue Töne zu vernehmen. Prominente Politiker sprechen Probleme offen an. Die Änderung in der Sprache hat bislang jedoch noch nicht zu einer neuen Menschenrechtspraxis geführt.«



Das strukturelle Problem von Menschenrechtsverletzungen in der Türkei macht das Auswärtige Amt im Lagebericht durchaus deutlich, indem es den Report des UN-Sonderberichterstatters zur Folter vom 27. Januar 1999 zitiert: »Das größte Manko liegt darin, dass die Beschuldigten in Staatssicherheitssachen innerhalb der ersten 48 Stunden beziehungsweise vier Tage des Polizeigewahrsams nicht das Recht auf ungehinderten Zugang eines Rechtsanwalts gewährt wird. Die Incomunicado-Haft wird daher seit langem als strukturelle Voraussetzung von Folter kritisiert.« Im Klartext: Der türkische Staat schafft durch gesetzliche Regelungen die Voraussetzungen dafür, dass Folter in der Türkei nach wie vor an der Tagesordnung ist.



An anderer Stelle schreibt das Auswärtige Amt: »Ein weiterer Grund für diese Übergriffe liegt darin, dass die Beweisführung türkischer Sicherheitskräfte in hohem Maße auf Geständnissen beruht, denen traditionell von Gerichten ein sehr hoher Beweiswert zugemessen wird.« In der Türkei wird oftmals auf Geständnisse zurückgegriffen, die unter Folter erpresst wurden. Dies wird auch an den hier vorgestellten Einzelfällen deutlich.



Von viel größerer Bedeutung für die Praxis ist die Tatsache, dass das Auswärtige Amt seine bisherigen Behauptungen zum generellen Bestehen einer inländischen Fluchtalternative für Menschen aus der Südosttürkei verändert hat. Etwas verklausuliert heißt es zum Thema der Übergriffe von Sicherheitskräften: »Diese Vorgänge sind Teil der–landesweit und ohne Unterschied der ethnischen Verhältnisse – menschenrechtlich bedenklichen Praktiken türkischer Sicherheitskräfte. Auch wenn die allgemeine Aussage nicht zutreffend ist, dass es in der Türkei für Kurden generell oder für Kurden aus dem südöstlichen Kurdengebiet oder auch nur für Kurden aus den Notstandsgebieten keine Ausweichmöglichkeiten mehr gebe, kann sie im Einzelfall durchaus zutreffen. Die Maßnahmen sind nicht ethnisch motiviert und definiert. Daran ändert nicht, dass an den fraglichen Orten überwiegend (wenn auch keineswegs nur) Kurden diesem Risiko ausgesetzt sind.« Für die Praxis bedeutet dies: Der Einzelfall muss jetzt geprüft werden. Mit dem bloßen Verweis des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge und vieler Verwaltungsgerichte auf die interne Fluchtalternative Westtürkei ist es nicht mehr getan. Es ergeben sich größere Chancen für Asylfolgeantragstellende. Erste bekannt gewordene Urteile von Gerichten, denen bereits der neue Lagebericht vorliegt, sind jedoch unterschiedlich ausgefallen.



Wie auch in den vorangegangenen Berichten bemüht sich das Auswärtige Amt, eine Gruppenverfolgung von Kurdinnen und Kurden bereits begrifflich auszuschließen. Obwohl das Auswärtige Amt feststellt, dass kritische Äußerungen zur Kurdenfrage strafrechtlich sanktioniert werden und kurdisch-stämmige Personen öfter in den Verdacht geraten, separatistisch tätig zu sein, obwohl ausführliche Repressionen gegen die Zivilbevölkerung im Südosten beschrieben werden, wird eine Verfolgung aufgrund der ethnischen Zugehörigkeit kategorisch verneint. Als potentielle Separatisten verfolgt der türkische Staat nach dieser Sichtweise lediglich das Individuum, nicht Kurden. Richtig ist sicher, dass auch Kurdinnen und Kurden in der Türkei ohne Probleme leben und auch in hochrangigen Positionen tätig sein können. Voraussetzung ihres ungestörten Lebens ist allerdings die völlige Assimilation und ein Verzicht auf jedes Bekenntnis zu ihrer ethnischen Herkunft, also die Aufgabe grundlegender demokratischer Rechte. Kritische Meinungsäußerungen zur Kurdenfrage werden nach wie vor strafrechtlich sanktioniert. Das stellt auch das Auswärtige Amt fest: »Personen, die in Wort oder Schrift für eine kurdische Autonomie, d.h. für eine kurdische Selbstverwaltung innerhalb des türkischen Staatsverbands eintreten oder Forderungen nach kultureller Eigenständigkeit erheben, riskieren, wegen »separatistischer Propaganda« bestraft zu werden.« Eine logische Schlussfolgerung daraus wäre also, eine Gruppenverfolgung nicht assimilierter Kurden fest zu stellen. Diesbezüglich verbeugt sich das Auswärtige Amt aber offensichtlich vor den Interessen deutscher Innenminister, für die die asylrechtliche Anerkennung einer Gruppenverfolgung nicht assimilierter Kurden ein Alptraum wäre, ist ihnen doch bereits die relativ hohe Anerkennungsquote in Asylverfahren türkischer Kurden ein Dorn im Auge. Zu dieser Linie des Auswärtigen Amtes passt es dann wohl auch, dass das Auswärtige Amt an anderer Stelle die millionenfache Vertreibung von Kurdinnen und Kurden aus der Südosttürkei und die Zerstörung von etwa 3.500 Dörfern mehrfach als »Evakuierung« tituliert.



Der Vorspann zum Lagebericht greift auf, was der Staatsminister im Auswärtigen Amt Ludger Volmer bereits bei der Ankündigung einer neuen Konzeption für alle Lageberichte des Auswärtigen Amtes dargestellt hat: Das Auswärtige Amt wird sich künftig auf die Faktendarstellung konzentrieren, auf rechtliche Bewertungen weitgehend verzichten und Schlussfolgerungen aus der Faktendarstellung ebenfalls Behörden und Gerichten überlassen. Dieser Ankündigung wird der Inhalt des Berichts an einigen zentralen Stellen nicht gerecht. Obwohl Gefährdungsmomente für Kurdinnen und Kurden im Lagebericht durchaus erwähnt und Menschenrechtsberichte offizieller Stellen zitiert werden, treten an anderen Stellen bloße Plausibilitätserwägungen an die Stelle ernsthaft ermittelter Fakten. So wird auch im aktuellen Bericht wieder einmal behauptet, »daß türkische Behörden sich in erster Linie für Drahtzieher von Auslandsaktivitäten interessieren, die sich aus der Perspektive türkischer Behörden als »separatistisch« ausnehmen.« Die hier dokumentierten Einzelfälle, aber auch Berichte anderer Nichtregierungsorganisationen belegen, dass auch Menschen, die sich nicht exponiert politisch betätigt haben, misshandelt und gefoltert werden. An dieser Stelle muss sich der Lagebericht den Vorwurf gefallen lassen, innenpolitischen Interessen dienstbar zu sein, indem er nahe legt, dass Risiken im Falle von Abschiebungen nur bei hervorgehobenen politischen Aktivisten bestehen.



Dennoch: Die Veränderungen im aktuellen Lagebericht zeigen, dass sowohl die Dokumentation von Einzelfällen als auch das Ringen um jeden Absatz und jede Formulierung des Lageberichts notwendig ist, um die Chancen verfolgter Kurdinnen und Kurden im deutschen Asylverfahren zu verbessern. Das Auswärtige Amt ist weiter in der Pflicht. Es kann nicht den Nichtregierungsorganisationen allein überlassen bleiben, sich um das Schicksal Abgeschobener zu kümmern. Das Auswärtige Amt weiß selbst, wie schwierig Recherchen für türkische Menschenrechtsorganisationen sind und schreibt im Lagebericht: »Türkische Menschenrechtsorganisationen sind nicht selten Behinderungen durch staatliche Stellen ausgesetzt«, und konstatiert, Sicherheitskräfte richteten nicht selten ihre Aktivitäten auf Menschenrechtsaktivisten. Wenn aber türkische Menschenrechtler bei der Arbeit behindert, bedroht und selbst inhaftiert werden, dann muss das Auswärtige Amt alle Möglichkeiten nutzen, für die Betroffenen und die Erhaltung ihrer Arbeitsmöglichkeiten einzutreten. Eine menschenrechtliche Orientierung der deutschen Außenpolitik und Schutzgewährung für politisch Verfolgte sind verschiedene Seiten der selben Medaille.



Claudia Gayer

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